Kieselsteine

  • Kapitel 66: Was bleibt, wenn die Worte sterben?

    Er rief an
    vom Sterbebett.
    Seine Stimme –
    brüchig,
    verhangen,
    und doch plötzlich
    so schneidend klar.

    Sätze,
    die nicht zu ihm passten.
    Nicht zu dem Mann,
    der durch und durch liberal war.
    Der mich gelehrt hatte,
    jeden Menschen zu achten,
    egal, woher er kam.

    Auf seinen Baustellen
    sprachen sie Polnisch,
    Italienisch,
    Türkisch.
    Er sprach Mensch.
    Er war kein Nazi.
    Nie gewesen.

    Aber dann,
    in den letzten Stunden,
    kam etwas zurück.
    Etwas Altes.
    Etwas, das ich nie zuvor von ihm gehört hatte.
    Nicht so.
    Nicht in diesem Ton.

    Parolen,
    verquere Schuldzuweisungen,
    Worte aus einer Tiefe,
    die selbst er
    nicht mehr kannte.

    Ich habe sie verdrängt.
    Die Worte.
    Nicht, weil ich sie entschuldigen will –
    sondern weil ich sie nicht tragen konnte.

    Es war,
    als hätte die Hitlerjugend
    noch immer einen Raum in ihm.
    Verschüttet.
    Vergessen.
    Aber nicht ausgelöscht.

    Und ich wusste:
    Diese Ideologie
    ist nicht nur Geschichte.
    Sie ist Erinnerung,
    Erziehung,
    eine Sprache der Härte,
    die Generationen
    verformt hat.

    „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“
    „Ein Mann heult nicht.“
    „Hab dich nicht so.“

    Und ich wusste: Diese Ideologie ist nicht nur Geschichte. Sie ist Erinnerung, Erziehung, eine Sprache der Härte, die Generationen verformt hat. Sie war es, die uns Sätze wie ‚Ein Indianer kennt keinen Schmerz.‘ oder ‚Ein Mann heult nicht.‘ einpflanzte.

    Es ist,
    als hätte man uns beigebracht,
    Menschen zu sein –
    ohne fühlen zu dürfen.

    Er war kein schlechter Mensch.
    Aber auch er
    war nicht ganz frei.

    Und das,
    was am Ende hochkam,
    war nicht seine Wahrheit –
    es war seine Prägung.
    Sein Schatten.
    Ein letztes Aufflackern
    einer Zeit,
    die nie ganz
    von uns gelassen hat.

    Ich werde es ihm nie vorwerfen.
    Aber verzeihen
    muss ich es der Geschichte.
    Nicht ihm.



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  • Kapitel 65: Der kleine Sieg

    Erst viel später, als mein eigener Sohn geboren war, und ich mit ihm zur Hochbegabtenberatung ging, hörte ich die Sätze, die mir nie jemand gesagt hatte:

    „Solche Kinder kann man intellektuell nicht überfordern, aber emotional entwickeln sie sich nicht schneller. Es braucht Liebe. Viel Liebe.“

    Ich verstand plötzlich, dass ich kein dummes Kind gewesen war. Sondern ein überforderter kleiner Mensch mit zu großem Kopf und zu wenig Halt.

    Heute verstehe ich meinen Sohn, wenn er explodiert. Und vielleicht ist das mein kleiner Sieg.

    Ich weiß, wie sich das anfühlt, wenn das Innere brennt und keiner weiß, warum.

    Ich bin verschmust geworden. Meine Familie kennt Umarmungen. Zärtlichkeit. Wärme. Und doch ist da ein innerer Bruch. Eine Lücke, die nie ganz heilt.

    Ich bin kein Opfer. Ich trage meine Fehler. Aber ich bin manchmal immer noch ein Krüppel auf der Gefühlsebene. Nicht unfähig zu lieben – nur unsicher darin.

    Hänseleien machen dich nicht stark. Aber sie machen dich kämpferisch. Und kämpfen – das habe ich gelernt.

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  • Kapitel 64: Verletzte Seelen

    Als ich vom Internat auf das Gymnasium in Freising wechselte, bekam ich den Spitznamen Conan. Conan – nicht wegen Kraft, nicht wegen Muskeln, nicht wegen Mut. Es lief gerade Conan der Barbar mit Arnold Schwarzenegger im Kino. Ich hieß auch Arnold. Das reichte schon.

    Ich bekam das erst gar nicht mit. Und als ich es mitbekam, fühlte es sich falsch an. Denn nichts – aber auch gar nichts – an mir war Conan.

    Mein Selbstbewusstsein lag am Boden, gescheitert an mir selbst, an der Welt, an dem Gefühl, nicht richtig zu sein. Meine Schulkarriere war ein Trümmerfeld.

    Die erste Umschulung kam schon in der ersten Klasse. Ein Psychologe stufte mich zurück. Sein Urteil: zu verspielt. Nicht schulreif.

    Was bei ihm eine Einschätzung war, war bei mir ein Stempel: Du bist dumm.

    Ich trug ihn wie ein Mal tief in mir. Noch Jahrzehnte später spürte ich ihn, wenn ich etwas nicht gleich verstand.

    Meine zweite Umschulung – von der sechsten zurück in die siebte. Eine Konstante war das nicht. Und gerade das hätte ich gebraucht.

    Wenn der Geist springt, braucht die Seele Halt. Wenn dein Inneres zu laut denkt, muss das Außen still und stabil sein. Aber das war es nie.

    Vielleicht deshalb steht auch heute noch ein Riss zwischen mir und meiner Mutter. Sie ist stark. Leistungsstark. Und in vielem erfolgreich. Aber ich kann mich nicht erinnern, wann sie mich je gehalten hat.

    Ich war ein zorniges Kind. Nicht bösartig – nur überfordert mit sich. Und keiner fing diesen Zorn auf.

    Die Hänseleien in der Grundschule – „Brillenschlange!“ – waren nicht das Problem. Aber sie waren der Tropfen, der immer wieder fiel auf eine Seele, die längst verletzt war.

    Ich sehe es heute als die Rache der Mittelmäßigkeit. Aber damals war es einfach nur Schmerz.

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  • Kapitel 63: „Nicht als Klopapier zu gebrauchen“

    Ein Buch mit Widmung fiel mir in die Hände.

    „Nicht als Klopapier zu gebrauchen.“
    Darunter: Unterschrift. Reinhard Gehlen.
    Ein Satz wie ein Lächeln mit geschlossenen Lippen.

    Ich hielt es wie einen Sprengkörper in den Händen.
    Gehlen, Chef der Organisation Gehlen, später Gründungsvater des BND.
    Das Buch gehörte meinem Vater.

    Geheimnisse reihen sich an Geheimnisse.
    Familiengeheimnisse, Landesgeheimnisse –
    alle mit Tarnkappe,
    nur sichtbar im schrägen Licht.


    Eine meiner Tanten verschaffte mir als Jugendlicher einen Freifahrtschein beim Sicherheitsoffizier.
    Eine andere verleugnet heute mit 89, dass ihr Vater bei der SS war.
    Auf der Beerdigung hieß es, er sei Finanzbeamter gewesen.
    Stimmt auch. Wie so vieles stimmt – und doch nicht.

    Mein Großvater ritt in der Pferdestaffel der SS,
    so erzählte man es mir.
    Ein Märchen mit Uniform.

    Mit meinem Vater darüber gesprochen? Nie.


    Die Schatten in dieser Familie reichen weit:
    Gustav Borger, der Bruder meiner Großmutter,
    steht als Nazi in der Wikipedia.
    Mein Vater befreundet mit Buzz Hess,
    dessen Vater wiederum Rudolf hieß.
    Auch das wurde nie erwähnt.

    Die Klavierlehrerin meiner Kindheit:
    meine Großmutter.
    Begabt, streng, verbittert.
    Ohne Persilschein – keine Professur.
    Nur Privatschüler.


    Dafür war der andere Großvater – der kommunistische –
    im Krieg gefallen.
    Sagt meine Mutter.
    Vielleicht stimmt auch das.
    Vielleicht auch nicht.

    Wir haben keinen Kontakt mehr.
    Zu viele Fragen.
    Sie lädt ein –
    ich stelle eine Rückfrage –
    sie lädt wieder aus.
    Sie regiert, wie sie immer regiert hat.
    Als Mutter, Managerin, Meisterin:
    Tennis, Bowling, Karriere, Kontrolle.
    Sie – eine Maschine mit Menschengesicht.


    Zwischen ihren Kindern: Lücken.
    Unerzählte Leben.
    Abtreibung in Holland, irgendwann um 1970.
    Ein Satz, einmal gefallen,
    wie ein Tropfen in glühendes Öl.


    Mich hat das alles nicht abgeschreckt – eher fasziniert.
    Ich las John le Carré,
    Der Spion, der aus der Kälte kam.
    Und alles, was nach kaltem Rauch roch:
    Wyatts Sturm,
    Landslide von jenem englischen Autor,
    dessen Name mir entfallen ist –
    Südafrika, MI5, irgendwas zwischen Fakten und Fiktion.

    „Es muss nicht immer Kaviar sein“
    hielt ich für ein Kochbuch in Tarnung.
    Vielleicht war es das auch.


    Wirklich grotesk wurde es später,
    als ich zur Heirat ein Ehefähigkeitszeugnis brauchte.
    Nicht mein deutscher Pass genügte –
    nein, ich sollte nachweisen, dass ich Deutscher von Geburt war.
    Standesamtsakten, Großeltern, Urkunden.
    Wäre einer eingebürgert gewesen, hätte das gereicht.
    War aber keiner.

    Ich fühlte mich
    wie bei der Vorladung zum Ariernachweis
    in einer besseren Republik.


    Und dann gab es noch den Moment in Wien:
    1980er Jahre,
    ich und Siggi warten die Lüftungsanlage in einer Kaserne des Bundesheeres.
    Kein Sicherheitscheck. Kein Ausweis. Kein Widerspruch.
    Einfach so:
    ein Deutscher in einer österreichischen Kaserne,
    mit Werkzeug und Neugier.

    Manchmal denke ich:
    alles war seltsam.
    Aber vielleicht war seltsam das Normalste,
    was man aus dieser Herkunft machen konnte.

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  • Kapitel 62: Die, die da blieben – und gingen

    Es gab sie –
    die Namen, die wie Fußabdrücke durchs Leben führten.
    Nicht laut,
    nicht endgültig –
    aber spürbar.

    Dorothea.
    Claudia.
    Andrea.

    Und andere,
    die später kamen.

    Manche blieben nie lange.
    Manche kamen zurück.
    Oder warteten,
    bis ich es tat.

    Eine stand plötzlich
    mit Kochtöpfen vor meiner Tür.
    Ein anderes Gesicht
    am Rand der Erinnerung.
    Ein Versuch,
    den Moment zurückzuholen,
    den es so nie gab.

    Eine andere –
    ich kannte sie aus dem Schulbus.
    Aus dem Flimmern zwischen Kindheit und Erwachsenwerden.
    Wir waren uns nah.
    Und dann war ich weg.
    Ich ging –
    nach Süden,
    nach innen,
    nach Österreich.

    Als ich zurückkam,
    war sie nicht mehr allein.
    Ein anderer hatte das Netz gesponnen,
    das ich zerrissen hatte,
    bevor es halten konnte.

    Später, in einem fremden Land,
    standen wir –
    meine Frau und ich –
    vor ihrer Tür.
    Es hieß,
    von ihr und ihm:
    „Alles kein Problem!“

    Als wir ankamen,
    war sie plötzlich im Krankenhaus.
    Gebar ihr zweites Kind.

    Ich wusste nicht,
    dass Reue ein Geräusch hat.
    Manchmal klingt sie wie flacher Atem.
    Wie Schmerz,
    der sich nicht erklären lässt.

    Und manchmal beginnt das Herz der Frau,
    die du liebst,
    zu früh Wehen zu schlagen –
    weil ein Schatten aus deiner Vergangenheit
    plötzlich wieder Raum nimmt im Jetzt.

    Ich habe sie nie wieder gesehen.
    Nicht die Frau.
    Nicht das Kind.
    Das vielleicht geboren wurde,
    weil ich zur falschen Zeit
    am falschen Ort
    mit zu vielen offenen Kapiteln erschien.

    Ich war kein Böser.
    Nur ein Unfertiger.


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  • Kapitel 61: Der Preis der Ordnung

    Vielleicht wäre ich geblieben.
    In Wien.
    Mit der Frau, die später meine Frau wurde.
    Damals lag alles offen –
    aber dann war da die Bundeswehr.
    Ein sturer Apparat,
    der keine Träume gelten lässt,
    nur Pflichten.

    Also kehrte ich zurück.
    Nicht freiwillig,
    nicht ganz unfreiwillig.
    Und als sich dann die Frage stellte,
    wo unser gemeinsames Leben beginnen sollte,
    entschied letztlich der Alltag:
    Geld ist Geld.
    Ein Job ist ein Job.
    Sie studierte.
    Ich verdiente.

    Sie wechselte an die LMU nach München,
    von der Religion in Wien
    wurde sie Doktor der Slavistik, denn
    ich hatte dort eine Anstellung
    in einem Callcenter –
    eines der ersten privaten Deutschlands.
    Nicht glamourös,
    aber regelmäßig.
    Und das war zu der Zeit
    nicht selbstverständlich.

    Ich hatte schon viele Jobs gehabt,
    in den Achtzigern,
    eine bunte Reihe aus Tätigkeiten,
    Gelegenheiten, Überbrückungen.
    Kein Mangel an Arbeit,
    aber auch keine Struktur.
    Dies hier war anders.
    Ein Vertrag.
    Ein Gehalt.
    Ein bisschen Ordnung.

    Parallel dazu
    lastete das Erbe meines Vaters
    noch auf meinen Schultern.
    Ein Projekt in Sachsen –
    27 Millionen schwer,
    geplant für altersgerechtes Wohnen.
    Ich erinnere mich noch gut,
    wie ich nach seinem Tod
    die Grundschuld löschen ließ.
    „Alles getilgt“,
    sagte die Beamtin.
    Ein Satz wie ein Gewitter,
    nach dem endlich
    die Luft wieder atmen konnte.

    Ich wollte abschließen,
    aufräumen,
    das Kapitel beenden.
    Aber das Grundstück war unverkäuflich.
    Nicht mal für 10.000 Euro
    fand sich ein Interessent.
    Die detaillierte Planung einer Ingenieursgesellschaft
    lag umsonst in der Schublade.
    Kein Lockmittel half.
    Der Markt war tot.

    Und während nichts floss –
    weder Geld noch Hoffnung –
    flossen Gebühren.
    Der Bundesanzeiger, privatisiert,
    forderte trotzdem seinen Beitrag.
    Nicht zahlen?
    Dann mahnt das Bundesamt für Justiz.

    Ich übergab alles dem Insolvenzverwalter.
    Er dachte, er mache ein Schnäppchen.
    Und als er merkte, dass nichts zu holen war,
    versuchte er, mich anzuzeigen.
    Ein Versuch –
    mehr nicht.
    Die Staatsanwaltschaft stellte schnell ein.
    Zu sauber war die Aktenlage,
    zu transparent alles,
    was ich übergeben hatte.

    Doch es blieb der bittere Beigeschmack:
    Es gibt Menschen,
    die suchen nicht die Wahrheit.
    Sie suchen nur
    jemanden,
    den sie zur Rechenschaft ziehen können.
    Am liebsten,
    wenn sie selbst
    die Verantwortung scheuen.

    [Zum Buch]

  • Kapitel 60: Ausschabung

    Damals,
    in den Achtzigern,
    war ich naiv.
    Dachte, man spricht über alles,
    wenn man liebt.

    Sie war katholisch,
    österreichisch,
    verschämt.

    „Nur ein medizinischer Eingriff“,
    sagte sie.
    Ich fuhr mit.
    Wartete.
    Fragte nicht.
    Wollte trösten –
    ohne zu verstehen.

    Erst Jahre später
    kam die Erkenntnis wie ein
    schiefer Lichtstrahl
    durch alte Gardinen:
    Sie hat abgetrieben.
    Ein Kind.
    Meins.

    Und ich war da.
    Aber nicht anwesend.



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  • Kapitel 60: Die Ex bei der Hochzeit

    Die Welt schaute verwirrt.
    Studienkollegen in Wien,
    jung, aufgeklärt,
    und doch nicht frei von Normen.

    „Was macht denn die da?“
    Die –
    war meine Ex.

    Acht Jahre älter,
    musikalisch, klug,
    Sonderschullehrerin mit großem Herzen
    und noch größerer Erschöpfung.

    Wir hatten geliebt,
    uns getrennt,
    uns behalten.
    Nicht im Bett –
    aber im Leben.

    Sie fuhr die Hochzeitsgesellschaft
    vom Stadtrand Wiens
    in die Stadt.
    Saß mit uns am Tisch,
    als ich meiner Frau das Jawort gab.

    Und meine Frau?
    Die war einfach –
    ganz bei sich.
    Kein Theater.
    Kein Misstrauen.
    Kein Besitzanspruch.

    Sie wusste,
    man kann jemanden lieben
    ohne ihn zu brauchen –
    und jemandem vertrauen
    ohne ihn zu besitzen.


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  • Kapitel 59: „Arnold will mich einsperren!“

    Die Worte zerschnitten mir das Herz.
    Nicht laut.
    Nicht wütend.
    Nur wie ein Riss im Gewebe zwischen uns.

    „Arnold will mich einsperren.“

    Ich.
    Der nur helfen wollte.
    Der nicht mehr wusste, wie.
    Der aus der Wohnung ging,
    hinunter zur Telefonzelle,
    um bei einer anonymen Hotline
    einen Menschen um professionelle Hilfe zu bitten.

    Ein Akt der Liebe –
    wahrgenommen als Verrat.
    Eine Zuwendung –
    erlebt als Gefahr.

    Sie war in einem anderen Zustand,
    nicht einfach in einem anderen Raum.
    Meine Frau war dabei –
    nicht ständig, aber doch nah.
    Sie hat gesehen,
    wie die Realität zerbrach
    und eine andere Welt entstand.

    Später schrieb sie auf, was sie gesehen hatte:

    Eine Frau mittleren Alters.
    Die langen Haare zerzaust, die Kleidung in Unordnung –
    aber das Verworrenste war ihr Geist.

    Eine Begegnung, die zu viel bedeutete –
    die sich als Seifenblase entpuppte,
    und genau so zerplatzte.

    Es war ein Fall –
    ein nicht aufhörender, ungebremster Fall.
    Ohne Richtung. Ohne Halt.

    Die Frau warf sich von Ecke zu Ecke,
    suchte mit dem Körper das,
    was der Geist nicht mehr greifen konnte.

    Worte erreichten sie nicht.
    Berührung wurde abgewehrt.
    Nur Angst blieb.

    Ich – so schreibt sie –
    versuchte zu beruhigen, zu umarmen.
    Doch sie wich zurück.

    Dann fiel das Wort: Krankenwagen.
    Und mit ihm: neue Panik.

    „Nein! Nein! Ich will nicht eingesperrt werden!“

    Diese Angst – paradox –
    war die erste Brücke zurück in die Wirklichkeit.

    Einer der Männer sprach ruhig auf sie ein.

    Schließlich,
    wie ein zerdrückter Mantel auf dem Boden:
    Schlaf.
    Erschöpfung.
    Stille.

    Am nächsten Tag erinnerte sie sich an nichts.
    Und das war gut so.

    Ich aber –
    ich erinnere mich an alles.
    Nicht laut.
    Nicht täglich.
    Aber wenn es Nacht wird,
    zwischen zwei Gedanken,
    in den Ritzen des Alltags –
    dann ist es da.

    Diese eine Stimme:

    „Arnold will mich einsperren.“

    Und ich weiß,
    was sie eigentlich sagte:
    „Arnold – bitte halt mich.“

    [Zum Buch]

  • Kapitel 58: Bedeutungslos

    Ich war vierzehn oder fünfzehn –
    das Alter, in dem man beginnt,
    mit sich selbst zu ringen
    ohne zu wissen,
    ob man kämpft oder tanzt.

    Internat.
    Haus Geschwister Scholl.
    Ein Ort, der schon im Namen Verantwortung trug
    und Haltung einforderte,
    auch wenn man nur ein Junge war,
    der Geschichten schreiben wollte.

    Ich hatte mir in den Kopf gesetzt,
    eine bedeutungslose Geschichte zu schreiben.
    Ganz bewusst. Ganz entschieden.
    Eine Geschichte, in der nichts passierte,
    nichts aufgelöst wurde,
    nichts erklärt.

    Weil ich wissen wollte,
    ob das geht.
    Ob es Raum gibt
    für das Nicht-Spektakuläre.

    Eine Geschichte ohne Pointe.
    Ohne Botschaft.
    Ohne Held.
    Ein Vakuum,
    in dem der Leser selbst Bedeutung suchen müsste
    – oder daran scheitern.

    Der Lehrer, der sie las,
    blätterte kurz,
    dann sah er mich an wie einen kaputten Stuhl
    und sagte nur:
    „Was soll das?“

    Ich zuckte mit den Schultern.
    Er hatte es nicht verstanden.
    Vielleicht konnte er es auch nicht.

    Ein anderer Lehrer verstand mehr.
    Bodo Weidemann.
    Der gab mir Marx zu lesen – „Arbeit“.
    Nicht, weil ich darum gebeten hätte,
    sondern weil er etwas sah,
    was ich selbst nicht sehen konnte.

    Dasselbe Jahr:
    Ich verschlang John F. Kennedys Zivilcourage.
    Ein schmales Buch,
    aber es traf mich wie ein Fels in der Brandung.
    Pflicht gegen Angst.
    Redlichkeit gegen Bequemlichkeit.

    Ich wusste nicht,
    dass es nicht normal war,
    solche Bücher zu lesen mit vierzehn.

    Ich wusste nur:
    Etwas in mir wollte verstehen.
    Die Welt.
    Die Macht.
    Den Zweifel.

    Vielleicht war ich klug.
    Vielleicht auch nur früh verbogen.

    Aber klug genug,
    um zu ahnen,
    dass Geschichten ohne Bedeutung
    nur dann erzählt werden dürfen,
    wenn man sie durchdrungen hat.

    [Zum Buch]