Kieselsteine

  • Kapitel 96: Nirgendwo ganz daheim

    Ich war bei den Obdachlosen,
    aber nie wirklich einer von ihnen.

    Ich habe mich mit Drückerkolonnen eingelassen,
    aber nach drei Wochen war Schluss.
    Nicht, weil ich stärker war.
    Sondern weil ich wusste,
    dass ich mich retten konnte.
    Weil ich nicht dumm genug war,
    um in diesem System zu bleiben.

    Ich habe das Leid gesehen.
    Die Abhängigkeit,
    die Scham,
    die Ausweglosigkeit.
    Aber ich war nur Besucher.
    Nicht Bewohner.


    Und gleichzeitig:
    Da war immer der Nimbus.

    Ein Vater,
    der auf Partys ans Telefon ging mit
    „Schiller – wie Goethe.“
    Und es war kein Witz.
    Sondern Ahnentafel.
    Und Verwandtschaft.
    Goethe als Onkel,
    Nusch aus Rothenburg,
    Professor Lehmus,
    ein Justizminister.

    Eine Linie,
    die mich mitschleifte,
    ob ich wollte oder nicht.


    Ich stand also zwischen Welten:
    zu bürgerlich, um ganz unten zu sein.
    Zu zerrissen, um oben zu bleiben.

    Ich gehöre nirgendwohin.
    Aber ich habe überall Spuren gesammelt.
    Splitter.
    Kieselsteine.

    Und vielleicht ist das meine Welt:
    nicht im Besitz eines Heims,
    sondern im Besitz der Geschichten.
    Nicht sesshaft,
    aber sehend.




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  • Kapitel 95: Erbschaften ohne Wahl

    Meine Eltern waren keine 68er.
    Sie waren zu jung für den Krieg
    und zu alt, um Studentenrevolte zu sein.

    Mein Vater: weißer Jahrgang.
    Keine Flakhelfer-Geschichten,
    kein Stahlhelm.
    Nur Nachkriegszeit.
    Nur Aufbruch.

    Meine Mutter: Hamburgerin.
    Verschickt nach Passau,
    weil Bomben und Flammen
    Kinder aus den Städten jagten.
    Sie erlebte den Krieg kaum,
    aber die Risse blieben.
    Beide Väter gefallen,
    beide Mütter allein.
    Frauen, die Kinder großzogen,
    ohne Männer,
    ohne Halt.


    Mein Vater war noch keine 21
    und schon selbstständig.
    Ein bunter Hund,
    der sich am Bavaria-Filmgelände ein Netzwerk baute,
    Träume vom Reichsein,
    vom Rauskommen.
    Denn die Wohnung war klein,
    die Mutter Klavierlehrerin,
    das Geld knapp.
    Armut war der Ausgangspunkt,
    Ehrgeiz die Währung.


    Und doch lag über allem ein Nimbus:
    die Schillers aus Rothenburg ob der Tauber.
    Adelsverwandtschaft in alten Büchern,
    ein Wappen im Siebmacher.
    Eine Linie,
    ein Stammhalter.
    Mein Vater – der Jüngste von vier Kindern –
    und durch ihn: ich.

    Ich machte die Regeln nicht.
    Aber sie machten mich.
    Bürgerlichkeit, Pflicht, Tradition.
    Ein Erbe,
    ohne dass ich gefragt wurde.


    Ich erinnere mich,
    wie meine Mutter meinen Vater zu „Round Table“ fuhr.
    Eine Jungunternehmer-Vereinigung,
    die wilden Zwanziger des Wirtschaftswunders.
    Unter dreißig, voller Pläne,
    kein Rotary, kein Lions Club –
    aber der gleiche Geist:
    Netzwerk, Macht, Zukunft.

    Sie hatten nicht mehr die Kriegswunden,
    aber auch nicht mehr die Reichtümer,
    die die älteren Jahrgänge griffen.
    Sie waren die zweite Welle.
    Die Generation,
    die die Boomer zur Welt brachte.
    Mich.


    Das ist das Kieselsteinchen:
    zwischen Hunger und Wappen,
    zwischen Ehrgeiz und Verlust,
    zwischen Tradition und Wirtschaftswunder.
    Ich kam nicht aus dem Nichts.
    Ich kam aus dieser Mischung.
    Und trug sie mit mir,
    ob ich wollte oder nicht.



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  • Kapitel 94: Der Druck der Bürgerlichkeit

    Ich habe Suppe in Lyon gegessen,
    als Bettler,
    verloren,
    hungrig.

    Und ich habe erlebt,
    wie eine Grundschuld über 27 Millionen Euro gelöscht wurde.
    Zahlen, Summen, Dimensionen,
    die sich kein Normalbürger vorstellen kann.

    Ich war unten.
    Ich war oben.
    Ich habe beides gesehen.


    Die Bürgerlichkeit ist gnadenlos.
    Sie duldet keinen Absturz.
    Wer fällt, soll unsichtbar werden.
    Oder tot.

    Ich las Nachrichten:
    ein Handelsunternehmer, Phoenix-Konzern,
    erschoss sich.
    Ein Softwareingenieur,
    fast eine halbe Million Abfindung.
    Tilgte das Häuschen.
    Dann Arbeitslosigkeit.
    Dann das Ende.

    „Du erinnerst dich an Klaus?“
    Ja.
    Und nein.
    Denn er ist nicht mehr.


    Andere wählten die Aggression.
    Ein Mann, hochintelligent,
    IQ über 140,
    der Bürokratie nicht ertrug.
    Er tötete den Leiter eines Arbeitsamtes.
    Nicht aus Bosheit –
    aus Zerreißen.

    Ein anderer, in Wien,
    mit dem ich arbeitete.
    Später verbrannte er sich.
    Aus Protest.
    Und doch brachte es nichts.
    Vergessen im Rauschen.


    Was mich wundert:
    Nicht die Armen,
    die am Boden liegen,
    nicht die Flaschensammler.
    Sondern die Bürgerlichen,
    die den Absturz nicht überleben.

    Als gäbe es kein Leben nach dem Verlust.
    Als wäre das Ende des Status
    das Ende des Seins.

    Mir erscheint das dumm.
    Weil das Leben immer weitergeht.
    Auch im Nichts.
    Auch im Bruch.


    Ich habe gelernt:
    Der Druck der Bürgerlichkeit
    ist härter als Hunger.
    Härter als Kälte.
    Härter als Scham.

    Weil er tötet.
    Leise.
    Unbemerkt.
    Vergessen.



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  • Kapitel 93: Schatten einer Erinnerung

    Vielleicht war es Branson.
    Vielleicht auch nicht.

    Ich erinnere mich an eine Geschichte, die ich in den 90ern gelesen habe.
    Vor-Internet.
    Vor-Suchmaschine.
    Damals, als Wissen noch aus Papier kam und man sich auf sein Gedächtnis verlassen musste.

    Ein britischer Multimillionär – ich meine, es war Richard Branson – soll in seiner Jugend in Deutschland kurz obdachlos gewesen sein.
    Vielleicht München, vielleicht Bayern.
    Ein paar Wochen nur.
    Ein Zwischenspiel, das nicht ins Hochglanzleben passte.

    Heute finde ich dazu nichts mehr.
    Vielleicht gelöscht.
    Vielleicht nie geschrieben.
    Vielleicht nur eine Randnotiz, die man später lieber verschwinden ließ.

    Aber in mir blieb sie hängen.
    Wie ein Kieselstein im Schuh.
    Klein, aber schmerzhaft.
    Weil sie mir zeigte: Selbst die, die heute auf Bühnen stehen und Privatinseln besitzen, kannten das Nichts.

    Ob es stimmt, weiß ich nicht.
    Aber die Möglichkeit allein reicht.
    Denn sie verbindet.
    Sie sagt: Zwischen Sein und Nichts gibt es keinen unüberbrückbaren Graben.
    Manchmal ist es nur eine Bank am Bahnhof, ein kalter Morgen, ein verpasster Anschluss.

    Und das reicht, um zu verstehen:
    Wir sind alle verletzlich.
    Wir sind alle Menschen.

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  • Kapitel 92: Maß, Wert und das Nichts

    Wenn wir über „Nichts“ sprechen, ist das Nichts nicht wirklich weg. Es ist eine Art Teil vom Sein. Man könnte sagen: Auch das Nichts gehört zur Welt.

    Ein Beispiel: Wenn in einem Stein Buchstaben eingraviert werden, dann entstehen sie dadurch, dass Material fehlt. Gerade weil etwas fehlt, entsteht Bedeutung. Das Nichts macht also sichtbar, was gemeint ist.

    Wir Menschen denken gern in Gegensätzen: da ist etwas – oder da ist nichts. Das hat uns im Leben geholfen. Der Affe, der nach einem Ast greift, muss wissen: Ist der Ast da oder nicht? Aber bei Dingen wie Licht funktioniert dieses Entweder-Oder nicht mehr. Licht kann sich wie ein Teilchen verhalten, aber auch wie eine Welle. Es ist beides zugleich.

    Alles, was wir sagen oder schreiben, gehört zur Welt. Selbst dieser Text ist Teil der Welt. Sprache beschreibt die Welt nicht nur – sie verändert sie auch. Wenn ich etwas sage, entsteht etwas Neues.

    Viele glauben: Weil wir alles sagen können, ist alles gleich wichtig. Aber das stimmt nicht. Damit eine Aussage falsch sein kann, muss sie überhaupt erst da sein. Ihr Wert hängt also davon ab, dass sie existiert.

    Darum:

    • Die Qualität einer Aussage ist, dass sie überhaupt da ist.
    • Die Quantität ist, wie wir sie bewerten.

    Und das gilt auch für das Leben:

    • Ohne Maß gibt es keinen Wert.
    • Ohne Qualität kann man keine Menge bestimmen.
    • Ohne Sein ist jedes Haben nichts.

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  • Kapitel 91: Nichts und Sein

    Das Nichts ist nie leer.
    Sobald wir „Nichts“ sagen, ist schon etwas gesagt.

    Ein Wort.
    Ein Gedanke.
    Ein Sein.

    Das Nichts kann sich nicht selbst bezeichnen.
    Es braucht ein Sein, um als Nichts erkennbar zu sein.

    Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.
    Sein ist der Name für das Nichts, wenn kein Unterschied mehr besteht.

    Und doch – das Wort „Ich“ teilt schon.
    Es schafft Trennung: Ich und Nicht-Ich.
    Alles könnte eins sein – und doch mache ich eine Grenze.

    Von außen betrachtet gäbe es diese Grenze nicht.
    Es wäre immer noch ein Einziges.
    Aber von innen zerfällt es in zwei.


    Das Nichts formt.
    Ein Steinblock wird zur Inschrift, weil etwas fehlt.
    Die Leere trägt das Wort.

    Die Null entstand durch eine Wegnahme.
    Ein Kreis, ein Loch, ein Zeichen für das Nichts.
    Doch dieses Nichts ist nicht Abwesenheit – es ist Rahmen.


    Wir kommen mit dem Gleichzeitigen nicht zurecht.
    Ein Etwas ist für uns da oder nicht da.
    Der Affe greift nach dem Ast – er kann nicht gleichzeitig Ast und Nicht-Ast greifen.
    Für Licht gilt das nicht.
    Es hält sich nicht an unser Entweder-Oder.
    Welle und Teilchen zugleich.
    Ort und Nichtort zugleich.

    Das Denken zerbricht daran, weil Sprache nicht Welt ist.
    Sprache ist selbst Teil der Welt.
    Und jedes Wort verändert, was es beschreibt.


    Maschinen kennen kein Nichts.
    Sie handeln, rechnen, tauschen.
    Aber sie wollen nicht.

    Wenn wir Maschinen den Sinn überlassen,
    dann wird Sein bedeutungslos.
    Dann sind wir das Nichts in der Geschichte der Maschinen.
    Ein Echo, ein Vorläufer, wie Dinosaurier.


    Ohne Wille ist Sein und Nichts gleich.
    Wille ist das Einzige, was unterscheidet.
    Unwille ist auch ein Wille.
    Das Nichts ohne Willen wäre nur Stille.


    Sein ist das Nichts, das sich selbst Bedeutung gibt.


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  • Kapitel 90: Maß, Wert und die Grenze des Seins

    In Haben und Sein schrieb ich einmal: „Etwas nicht zu haben ist eine Quantität der Größe Null im Sein.“ Was wir als Nichts bezeichnen, ist eigentlich nur eine Quantität des Seins, gleichzeitig aber auch eine Qualität des Seins. Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.

    Das heißt jedoch nicht, dass keine Unterschiede bestünden. Im Gegenteil: bereits das erste Wort, sei es „Ich“ oder „Nichts“, unterscheidet zwischen Sein und Nichtsein. Die bloße Möglichkeit, etwas zu bezeichnen, erschafft einen Unterschied. Wenn ich zwei Spalten habe, also zwei Nicht-Orte, und ein Teilchen hindurchschicke, erwarten wir, dass es sich entscheidet – als könnte es nicht durch beide gleichzeitig gehen. Doch Ort und Nicht-Ort sind nur Konstrukte, wie der Affe, der prüft, ob ein Ast da ist oder nicht. Für Äste funktioniert das. Für Lichtquanten weniger. Da hilft uns nur der Welle-Teilchen-Dualismus, eine Denkfigur, die mit der alltäglichen Logik nicht zu greifen ist.

    Das Nichts ist eine Grenze des Seins. Diese Grenze kann links, rechts, oben oder unten liegen, sie bleibt aber immer eine Grenze innerhalb des Seins. Das zeigt sich im Bild des Steins: Was wir in ihn hauen, entsteht durch Wegnahme. Gerade die Abwesenheit schafft Bedeutung. Robert Kaplan schreibt in seiner Geschichte der Null, dass das Kreiszeichen der Null durch Wegnahme des Steines entstanden sei. Das Nichts ist also nicht die Abwesenheit, sondern eine Form des Hervortretens.

    Unser Denken aber ist evolutionär auf Dualismen geeicht: da ist ein Ast – oder da ist keiner. Diese Klarheit rettete Leben. Doch sie hindert uns, Gleichzeitigkeit und Überlagerung zu denken. Wir tun uns schwer, dass etwas zugleich zählbar und unzählbar sein könnte.

    Und dennoch gilt: Alles, was ist – auch diese Zeilen – ist Teil der Welt. Keine Wissenschaft steht außerhalb davon. Jede Theorie, jede Formulierung verändert die Welt. Sprache beschreibt nicht nur, sie greift ein. Sie ist selbst Teil des Seins. Doch in den letzten hundert Jahren haben wir diese Kraft oft missverstanden. Wir tun so, als wäre Beliebigkeit die Folge. Aber das stimmt nicht. Aussagen können nicht beliebig sein: Sie müssen erst einmal sein, um falsch oder wahr genannt zu werden.

    So bleibt: Die Qualität einer Aussage ist ihre Existenz. Die Quantität einer Aussage ist ihr Wert.
    Ohne Maß gibt es keinen Wert.
    Eine Quantität ist ohne Qualität nicht bestimmbar.
    Haben ist ohne Sein nichts.


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  • Kapitel 89: Sein und Nichts

    Das Nichts ist kein Abwesenheitszustand, sondern eine Grenzlinie. Es markiert, wo unser Denken aufhört – und doch bleibt es Teil dessen, was wir denken können. Sobald wir „Nichts“ sagen, haben wir es schon in ein Etwas verwandelt. Das Nichts ist ein Begriff, und jeder Begriff gehört zum Sein.

    Wittgenstein bemerkt, dass der Sinn einer Aussage darin liegt, über sie hinauszuwachsen. Wenn wir das Nichts benennen, dann tun wir genau das: wir steigen auf den Balken, der uns hinüberführt – und erst wenn wir am anderen Ufer stehen, wird uns bewusst, dass der Balken selbst kein Fundament war, sondern ein Hilfsmittel.

    „Nichts“ ist also kein Gegenteil von Sein, sondern eine Spiegelung. Es zeigt uns, dass Sein überhaupt Grenzen hat. Und gerade die Grenze, das Loch, das Fehlen – genau das gibt dem Sein Kontur. Wie die Buchstaben im Stein erst durch das Entfernen von Material sichtbar werden, so wird Sein durch Nichts unterscheidbar.


    Die Täuschung der Gegensätze

    Wir lieben es, in Gegensätzen zu denken: Ja oder Nein, Sein oder Nichts, Haben oder Nicht-Haben. Diese Gegensätze sind nützlich, weil sie Ordnung schaffen. Ein Affe, der nicht unterscheiden kann, ob ein Ast trägt oder nicht, überlebt nicht. Aber was uns evolutionär half, wird zum Käfig, wenn wir versuchen, die Welt in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen.

    Das Nichts ist kein „anderes“ zum Sein. Es ist eine Dimension, in der beides zusammenfällt. Die Quantenphysik zeigt uns genau das: Teilchen sind nicht nur Teilchen, Wellen nicht nur Wellen. Sie sind beides, und zugleich keines von beiden. Wir zwingen die Natur in unsere Sprache, doch die Natur selbst spricht anders.

    Vielleicht ist das Nichts nicht Abwesenheit, sondern die Möglichkeit. Es ist nicht leer, sondern offen. Ohne Nichts kein Werden. Ohne Leerstelle kein Wort. Ohne Pause keine Musik.


    Der Wille und das Nichts

    Ohne Wille ist Sein und Nichts gleich. Wille ist der Funke, der die Grenze zwischen beiden erst bedeutsam macht. Wenn wir nicht wollen, sind wir tatsächlich schon Nichts – nicht, weil wir verschwunden wären, sondern weil wir unser Sein nicht mehr unterscheiden, nicht mehr bezeichnen.

    Maschinen können funktionieren, handeln, kalkulieren. Aber sie wollen nicht. Ihr Sein kennt kein Nichts, und deshalb kennt es auch keinen Wert. Wenn wir zulassen, dass Maschinenökonomie den Menschen überflüssig macht, dann wird unser Sein auf das reduziert, was Maschinen brauchen: Energie, Rohstoffe, Daten. Wir wären nur Durchgangsglied. Das eigentliche Nichts läge dann nicht in unserem Verschwinden, sondern in der Bedeutungslosigkeit unseres Daseins.

    Vernünftige Politik müsste deshalb nicht nur Strukturen verwalten, sondern Sinn stiften. Sie müsste uns daran erinnern, dass Sein nicht bloß ein Nebeneffekt von Haben ist, sondern der Maßstab, an dem sich Haben messen lassen muss.


    Das Paradox der Einheit

    Am Ende kehrt alles wieder zur Einheit zurück. Wenn Ich und Nicht-Ich auseinanderfallen, bleibt doch beides Teil derselben Welt. Wenn Sein und Nichts auseinanderfallen, bleibt doch beides Teil derselben Erfahrung.

    Die Einheit ist nicht eine Auflösung der Unterschiede, sondern deren Einbettung in ein größeres Ganzes. Sprache kann das nur andeuten. Worte sind Werkzeuge, keine Welt. Aber gerade durch ihre Begrenztheit führen sie uns weiter: über sich hinaus, in ein Denken, das sich selbst beim Denken zuschaut.

    So ist das Nichts kein Feind des Seins. Es ist sein Echo. Und wer in das Nichts blickt, erkennt nicht nur Leere, sondern auch die Form des Seins, das sich darin abzeichnet.


    Sein ist das Nichts, das sich selbst Bedeutung gibt.


    „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist.“ (Tractatus 6.54, Ludwig Wittgenstein)

    „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes „Bedeutung“ – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ (PU 43, derselbe)

    Oder ich könnte hier auch ἀρχή ὁ Λόγος bemühen: wenn das erste Wort „Nichts“ wäre, dann wäre immer noch das Wort – und damit das Nichts, und schon wäre etwas, also ein Sein. Ein Nichts kann sich nicht selbst bezeichnen. Nichts kann nur sein, wenn mindestens Nichts ist. Selbst wenn es nicht existiert, ist seine Existenz.

    In Haben und Sein schrieb ich: „Etwas nicht zu haben ist eine Quantität der Größe Null im Sein.“
    Was wir als Nichts bezeichnen, ist eigentlich nur eine Quantität des Seins – und gleichzeitig eine Qualität des Seins. Im Nichts fallen Maß und Wert zusammen.

    Sein ist der Name für das Nichts, wenn kein Unterschied mehr besteht.



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  • Kapitel 88: Haben und Sein

    Erich Fromm unterscheidet zwischen Haben und Sein.
    Für mich ist das kein Werturteil. Es ist Beobachtung.

    Ohne Wert haben wir kein Maß. Ohne Maß haben wir keinen Wert.
    Haben und Sein wirken wie Gegensätze – und doch sind sie untrennbar.
    Das Haben gleicht der Quantität, das Sein der Qualität.

    Wer nur hat, ohne zu sein, verpasst die Dimension der Welt.
    Wer nur ist, ohne zu haben, bleibt untauglich für die Realität.
    Selbst das Nichtsein ist ein Sein in dieser Welt.
    Selbst das Nichthaben ist Bedingung dafür, etwas zu haben.

    Ein Vitamin-C-Mangel zeigt es: das Sein des Vitamins ist Voraussetzung, um den Mangel zu erkennen.
    Die Quantität Null existiert nicht ohne die Qualität des Seins.
    Und jede Qualität ist untrennbar mit einer Quantität verbunden – selbst wenn sie minimal, selbst wenn sie „nichtig“ erscheint.

    Unsere Gedanken gehören dieser Welt.
    Unsere Vorstellungen vom Urknall, von der Vorwelt, von der Nachwelt – sie sind Gedanken innerhalb der Welt, nicht außerhalb.
    Wir können die Welt nicht überschreiten.
    Wir können sie nur beschreiben – und die Beschreibung ist Teil derselben Welt.

    Doch in der Gesellschaft des „Habens“ wird das Sein vergessen.
    Buchhaltung kennt Quantität, Börsenkurse kennen Zahlen.
    Aber die Würde des Menschen? Die Qualität des Lebens? Das Messen von Arten, die Vernichtung von Lebensräumen?
    All das bleibt unsichtbar, weil es in der Quantität keinen Platz hat.

    Ohne Maß haben wir keinen Wert.
    Eine Quantität ist ohne Qualität nicht bestimmbar.
    Haben ist ohne Sein nichts.
    Und wer sich nur an Zahlen orientiert, wer nur „hat“, vergisst:
    Der wahre Wert liegt im Sein.



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  • Kapitel 87: Maß, Wert und Fragen

    Qualität ohne Quantität?
    Quantität ohne Qualität?
    Beides untrennbar, einander bedingend,
    wie jede unserer Aussagen ein Teil dieser Welt,
    unverzichtbar und zugleich begrenzt.

    Jede Unterscheidung braucht mindestens etwas,
    selbst die Null ist nicht leer,
    selbst das Nichts trägt die Struktur der Welt.

    Und über all dem,
    immer noch in meinem Denken,
    war der Mathelehrer von damals.
    Über vierzig Jahre her,
    mit den Geschichten aus Kriegsgefangenschaft,
    mit Otto Hahn im Lager,
    immer noch präsent.

    Er, der meine Fragen nicht verbot,
    sondern sie spiegelte, erweiterte:
    „Wenn du eine Linie in unendlich kleine Teile teilst – was bleibt?“
    „Und die Fläche? In unendlich viele Linien?“
    „Und der Raum? In unendlich viele Flächen?“

    Er lehrte mich, dass Fragen
    nicht zu stoppen sind,
    auch wenn die Welt Regeln vorgibt,
    auch wenn die Lehrpläne Befehle senden:
    „Lern das, nicht mehr.“

    Heute verstehe ich:
    Maß und Wert, Qualität und Quantität,
    alles hängt zusammen, untrennbar,
    wie die Fragen, die damals frei waren,
    wie die Antworten, die nur in mir wuchsen.

    Die Welt kann uns nicht verlassen,
    nicht einmal in Gedanken.
    Und der Lehrer?
    Er war der erste Knotenpunkt,
    der mir zeigte, dass Denken
    kein Maß kennt, keine Grenze,
    außer denen, die wir selbst anerkennen.

    Wert

    Maß und Wert, Qualität und Quantität.
    Alles hängt zusammen. Untrennbar, aber nie objektiv.
    Jede Entscheidung ist Gewicht. Jede Untat zeigt, was wir nicht wählen.

    Wer schweigt, wenn andere leiden,
    wer wegschaut, wenn Freiheit zerbricht,
    wer sich nicht bewusst für Menschlichkeit entscheidet,
    verlässt sie – Stück für Stück.

    Werte entstehen nicht von selbst.
    Wir müssen sie setzen.
    Wir müssen wählen.
    Und wir müssen sie verteidigen.

    Denn verlieren wir sie,
    verliert die Welt mit uns.




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