Kieselsteine

  • Kapitel 1: Keine Geschichte

    Die folgenden Texte sind keine Geschichten.

    Sie lesen sich wie Nachrichten aus der Zukunft oder Reportagen über skurrile Ereignisse. Sie haben Protagonisten, Handlung und einen Plot. Doch ihr Zweck ist nicht, zu erzählen. Ihr Zweck ist, zu enthüllen.

    Jeder dieser Texte ist ein Modell. Ein Gedankenexperiment, das die untergründigen Kräfte und logischen Konsequenzen unserer Gegenwart extrapoliert, um sie sichtbar und greifbar zu machen. Sie sind die mathematische Gleichung, nicht die Rechenaufgabe. Die anatomische Zeichnung, nicht der lebende Körper.

    Die Sektionen »Für die Doofen« sind keine Belehrungen. Sie sind der Wechsel der Perspektive, der den Modellcharakter offenlegt.
    Die meisten Texte in diesem Kapitel werden durch ein Segment ‚Für die Doofen‘ ergänzt, das den Modellcharakter offenlegt. Einige wenige Texte, wie ‚Das Taiga-Dilemma‘, verzichten bewusst darauf. Sie sind die stillen Muster, die den Leser einladen, die zuvor erlernte Decodierarbeit selbstständig fortzuführen und die Grenzen der analogen Historie in die komplexe Logik der Gegenwart zu übersetzen.

    Lesen Sie dieses Kapitel also nicht als Sammlung von Fiktionen. Lesen Sie es als eine Reihe von Diagnosewerkzeugen.

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  • Band 2 – Keine Geschichte

    Wert und Nichtwert
    Denkversuche


    Einleitung

    Dieses Buch ist keine Geschichte.

    Es ist der Versuch, den erzählerischen Reflex zu unterbrechen – jenen Impuls, aus der Gegenwart immer wieder Fabeln, Helden und Chroniken zu machen.

    Stattdessen sind die folgenden Texte Denkexperimente, Skizzen, Modelle.
    Sie tun so, als wäre die Zukunft bereits Vergangenheit, um die Strukturen unserer Zeit sichtbar zu machen.

    „Keine Geschichte“ ist ein Labor für Wirklichkeit.
    Die Texte spielen mit Spiegelungen – zwischen 1929 und 2029,
    zwischen Weimar und Gegenwart, zwischen Ideologie und Algorithmus.

    Ihre Figuren sind Chiffren, ihre Handlungen Gleichungen,
    ihre Moral: eine Frage.

    Was verbindet ein fiktives Auftrittsverbot im Jahr 2029 mit dem echten von 1929?
    Was verbindet ökonomische Macht mit moralischer Wertsetzung?

    Der gemeinsame Nenner ist nicht das Faktum,
    sondern das Muster.

    Wer diese Muster erkennt,
    sieht, dass Geschichte kein Strom ist, der vorüberfließt,
    sondern ein Kreis,
    der sich immer wieder schließt – nur mit anderen Namen,
    anderen Medien,
    anderen Begründungen.

    Dieses Buch will keine Welt deuten,
    sondern ihre Bewegungen aufzeichnen.

    Es ist kein Geschichtsbuch,
    sondern ein Seismograph.

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  • Das Gespräch, das blieb

    Sechzig.
    Eine Zahl, kein Gefühl.
    Und doch war da etwas,
    an diesem Abend in der Kneipe,
    als die Zeit sich um mich herum
    wie ein alter Mantel zusammenlegte.

    Ein Journalist war da,
    der mich schon kannte,
    bevor ich ihn kannte.
    Wir redeten – nicht lang,
    aber genug,
    um zu begreifen,
    dass Worte manchmal Jahre brauchen,
    bis sie landen.

    Jemand kam von weit her,
    der mich damals sah,
    als ich zwischen Aktivismus
    und Erschöpfung zerrieb.
    Ein Student von früher,
    als alles erst begann.
    Freunde, Bekannte, Familie,
    mein Kind –
    alle wie Kieselsteine,
    die sich im Strom des Lebens
    noch einmal berühren.

    Und mein Techniker,
    mein stiller Fels,
    warf fünfzig Euro
    in den Hut
    für den Mann am Klavier.
    Nicht aus Mitleid,
    sondern aus Zuneigung,
    weil er dachte,
    so gehöre es sich hier.
    Der Barmann grinste,
    ich auch –
    und vielleicht war genau das
    der schönste Moment des Abends:
    ein Missverständnis
    aus lauter Güte.

    Es war kein Fest der Eitelkeit,
    kein Rückblick,
    keine Abrechnung.
    Nur ein Atemzug zwischen Früher und Jetzt.
    Ein Abend,
    an dem das Leben
    noch einmal alle seine Stimmen sammelte.

    Und irgendwo,
    zwischen Lachen, Gesprächen,
    und dem Klang des Klaviers,
    blieb ein Satz hängen:
    „Wir sind immer noch da.“

  • Der, den ich nicht sah

    Er war da.
    Schon lange, bevor ich es merkte.

    Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht sah.
    Vielleicht, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt war.
    Mit Projekten, Kampagnen, Ideen.
    Mit Kämpfen, die lauter waren als Begegnungen.

    Er kannte mich längst.
    Wusste, wer ich war, was ich tat,
    und vermutlich auch, warum ich es tat.
    Und ich?
    Ich lief daran vorbei.
    Sah den Menschen nicht, der längst zuhörte.

    Er war Journalist,
    aber keiner von der schnellen Sorte.
    Keiner, der jagt oder urteilt.
    Eher einer, der bleibt.
    Der beobachtet,
    der Menschen verstehen will,
    bevor er über sie schreibt.

    Ich habe Jahre gebraucht,
    bis ich ihn wirklich wahrnahm.
    Und als ich es tat,
    war es, als würde ich jemandem begegnen,
    der immer schon da war.

    Vielleicht bin ich manchmal ein Schmock.
    Weil ich zu sehr rede,
    zu viel schreibe,
    und dabei vergesse,
    wer zuhört.

    Er war da.
    Ich nicht.
    Aber irgendwann traf sich beides –
    in einem Gespräch,
    das einfach blieb.

  • Das Hähnchen

    Meine Frau kommt aus Rostov am Don.
    Ein wohlbehütetes Professorenkind.
    Sie durfte nichts.
    Ihre Eltern hielten sie fern von allem,
    was in Russland gefährlich sein könnte.

    Sie lernte Deutsch schon mit vier, fünf Jahren –
    von ihrem Vater.
    Er war nicht streng, intellektuell,
    aber ein Mann der Philosophie in der Sowjetunion.
    Umarmungen gab es mehr als in meiner Familie.
    In meiner Familie war Zuwendung Leistung.

    Und dann kam ich.
    Wild.
    Ohne Schulabschluss.
    Ohne Schutzgitter.

    Ich weiß nicht mehr,
    wie oft ich von einem Baum gefallen bin.
    Aber nie ist mir etwas passiert.
    Einmal presste es mir die Luft aus den Lungen,
    ich rang nach Atem –
    und stand doch wieder auf.

    Im Elsass kletterte ich im Jugendkurs
    einen Sechser hoch.
    Ohne Seil.
    Einfach so.
    Der Kletterlehrer schrie mich an:
    „Wo hast du das gelernt?“
    „Auf Bäumen.“
    Er fasste sich ans Herz.
    Ich verstand erst viel später,
    als ich selbst Vater war,
    was das für ein Schock gewesen sein musste.

    So unterschiedlich waren wir:
    Sie – die Behütete.
    Ich – der Ungeschützte.

    Und doch ergänzten wir uns.

    Einmal erzählte sie mir einen Witz,
    den sie von ihrem Vater kannte.
    Ein Philosoph sieht auf dem Markt ein Hähnchen.
    Tot. Gerupft.
    Er sagt:
    „Dieses Hähnchen ist sich selbst gleich
    und doch nicht gleich.“

    Die Marktfrau schaut ihn an:
    „Idiot.“

    Und lacht.
    Und wir lachen bis heute.
    Denn in diesem Satz liegt die ganze Tiefe:
    das Hähnchen, das einmal lebte,
    und das Hähnchen, das nun auf dem Markt liegt.
    Gleich und nicht gleich.

    So lacht nur ein russischer Intellektueller.
    Und so lacht meine Frau mit mir.

    Nicht, weil ich der grobe Russe wäre.
    Sondern,
    weil sie in mir den Russen des 18. Jahrhunderts sieht:
    den Denker,
    den Suchenden,
    den mit der Seele,
    die noch immer über Leben und Tod nachsinnt.

  • Das Denkmal der Maschinen

    Es scheint fast,
    als hätte die Menschheit
    ihren Lebenswillen verloren.
    Nicht den individuellen –
    jeder will überleben,
    jeder will ein Stück Glück.
    Aber den kollektiven.

    Wir schwimmen wie Lachse stromaufwärts,
    nicht um zu leben,
    sondern um Maschinen zu gebären.
    Algorithmen, Systeme,
    Prozesse, die weiterlaufen,
    selbst wenn wir nicht mehr da sind.

    Vielleicht setzt eines Tages
    eine künstliche Intelligenz ein Denkmal:
    „Wir danken der Menschheit
    für die Schaffung unserer Existenz.“
    Und wir sind längst Geschichte.

    Wirtschaft hieß einmal:
    die Bedürfnisse aller Menschen befriedigen.
    Heute heißt sie:
    Profite maximieren,
    egal ob Wälder brennen,
    Böden zerfallen,
    Menschen vertrieben werden.
    Sachzwänge, nennt man das.
    Doch Sachzwang ist nur ein anderes Wort
    für Unwille.
    Der Unwille,
    etwas zu ändern.

    Es ist eine Verkehrung:
    Der Markt,
    der nur Mittel hätte sein sollen,
    ist zum Herrn geworden.
    Und die Politik,
    die den Menschen dienen sollte,
    folgt willig hinterher.

    Wenn Werte fehlen,
    verkommt alles zum Maßlosen.
    Und Maßlosigkeit
    hat noch nie Zukunft gehabt.
    Die Frage bleibt:
    Wer setzt die Werte?
    Und wer hat noch den Willen dazu?



  • Kapitel 100: Maß und Wert

    Ohne Wert kein Maß.
    Ohne Maß kein Wert.
    So einfach.
    Und doch so verloren.

    Wir haben gelernt,
    alles in Zahlen zu fassen.
    Wir berechnen Risiken,
    bewerten Menschen nach Produktivität,
    übersetzen Lebenszeit in Geld.
    Ein Tag auf der ISS: 2,25 Millionen Euro.
    93.750 Euro pro Stunde,
    nur um zu atmen und zu überleben.
    Und hier auf der Erde?
    Da tun wir so,
    als koste der Atem nichts.
    Als sei er unbegrenzt.
    Als müssten wir ihm keinen Wert geben.

    Das ist der Irrtum.
    Denn Werte sind nicht messbar,
    und Maße ohne Werte sind leer.
    Atmen, lieben, lachen –
    sie sind nicht verhandelbar,
    und doch werden sie verhandelt,
    vermarktet, verramscht.

    Der Wille entsteht aus dem Wertesystem.
    Auch der Unwille ist ein Wille –
    nur in Negation.
    Wer sagt: „Ich will nicht“,
    hat sich schon entschieden.
    Doch was ist unser kollektiver Wille?
    Wir vegetieren in Prozessen,
    getrieben von Märkten,
    gefangen in Modellen,
    die uns wie Bakterien dem nächsten Nährboden hinterherjagen.

    Menschlichkeit heißt,
    Werte zu setzen,
    die sich nicht verrechnen lassen.
    Nicht Gold, nicht Diamanten,
    sondern Luft, Wasser, Wärme, Nähe.
    Es ist eigentlich so klar –
    und doch handeln wir,
    als gäbe es kein Maß
    außer dem Geld.




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  • Kapitel 99: Der fehlende Wille

    Manchmal denke ich,
    dass ich einen Teil dieser Diplomarbeit mitgeschrieben habe.
    Nicht mit der Hand,
    aber mit den Diskussionen.
    Seite für Seite
    gingen wir sie durch,
    zerlegten Gary S. Becker,
    nahmen seine Rational-Choice-Theorie auseinander,
    die vorgab, den Menschen zu erklären,
    aber den Menschen gar nicht kannte.

    Er bekam eine summa cum laude.
    Verdient.
    Denn er konnte schreiben,
    präzise, klar, analytisch.
    Und doch blieb der Weg stehen.
    Keine Dissertation.
    Kein „Sturm auf die Bastionen“.
    Vielleicht fehlte der Mut,
    vielleicht der Doktorvater,
    vielleicht einfach nur der Wille.

    Ich hätte es mir gewünscht.
    Denn es wäre ein Gegengewicht gewesen
    zu all den falschen Theorien,
    die unser Wirtschaftssystem bestimmen
    und die Menschlichkeit ausblenden.
    Aber ich stand draußen.
    Ohne Abitur,
    ohne Zutritt zum Universitätsleben.
    Ein Zaungast,
    ein Katalysator vielleicht,
    aber keiner von innen.

    Es blieb bei Gesprächen,
    bei Ideen,
    bei Babsi.de –
    unserem kleinen Traum
    einer besseren, transparenteren Wirtschaft.
    Doch als es ernst wurde,
    als man Verantwortung hätte tragen müssen,
    lief er davon.
    Und ich stand da,
    mit den Resten einer Vision,
    die niemand mehr wollte.

    Manchmal,
    wenn ich an diese Zeit denke,
    spüre ich den Riss
    zwischen Können und Wollen.
    Zwischen klugen Gedanken
    und der Bereitschaft, sie zu leben.
    Vielleicht ist es das,
    was unser Zeitalter prägt:
    die Abwesenheit von Wille.
    Wir haben Maßstäbe,
    wir haben Modelle,
    wir haben Maschinen,
    aber keinen Willen mehr,
    der Menschlichkeit zum Maßstab zu machen.


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  • Kapitel 98: Flexibilität oder Zerreißen

    Die moderne Welt verlangt Flexibilität.
    Zieh um.
    Zieh hinterher.
    Zieh dahin, wo die Arbeit noch glüht.

    Aber was heißt das?
    Für eine Familie?
    Für ein Kind,
    das Halt braucht,
    statt ständig neue Straßen?


    Manche meiner Jobwechsel kamen nicht aus Lust.
    Sie kamen,
    weil Branchen zusammenbrachen.
    Weil die Welt sich schneller drehte,
    als ein Mensch hinterherkommt.

    Nach 1990 zogen die Callcenter nach Brandenburg.
    Oder nach Dublin.
    Die Lithographie?
    Wir hatten einen Partner in Ungarn –
    billig genug für den Anfang.
    Aber auf Dauer?
    Noch zu teuer.
    Also Indien.
    Singapur.
    Wer nicht mitzieht, fliegt raus.


    Die Drucker?
    Abgeschafft.
    Der Setzer?
    Abgeschafft.
    Der Schreibdienst, bei dem ich einst saß?
    Abgeschafft.
    Heute tippt der Journalist,
    und die Maschine macht den Rest.
    Roboter, Fließband, Algorithmen.
    In der Halle: noch ein Mensch,
    falls mal eine Schraube klemmt.
    Aber wehe, einer läuft im Dunkeln durchs Werk.
    Der stört nur.


    Ich bekam Jobangebote.
    Dublin.
    Portugal.
    Und was sollte ich tun?
    Die Familie zerreißen?
    Alles dem neoliberalen Mantra opfern,
    dass Flexibilität die neue Tugend sei?

    Nicht mit mir.
    Privates Glück ist mehr wert
    als diese Leistungsgesellschaft.
    Ein Kind braucht Stabilität,
    kein Flugticket im Jahresrhythmus.


    Man nennt es „Flexibilität“.
    Ich nenne es: Unmenschlichkeit.



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  • Kapitel 97: Sesshaft wider Willen

    „Nicht sesshaft, aber sehend“ –
    das hätte mein Wahlspruch sein können.
    Wanderer zwischen Obdachlosen und Goethe,
    zwischen Drückerkolonnen und Wappen.

    Aber die Wahrheit ist:
    Ich lebe seit über 30 Jahren an derselben Adresse.

    Nicht weil ich es wollte.
    Sondern weil sie es brauchte.
    Die Frau, die ich 1994 in Mödling traf,
    bei einer Dichterlesung,
    die sich anfühlte wie Schicksal.

    Sie war die Tochter eines Professors,
    eine Frau mit Heim-Bedarf,
    während ich weitergezogen wäre.
    Vielleicht rastlos geblieben,
    hätte ich allein gelebt.
    Aber sie entschied:
    Wir bauen ein Zuhause.
    Und ich entschied:
    Ja.


    Also wurde es München.
    Nicht Wien.
    Nicht die Welt.
    Sondern Einkommen.
    Ein Job.
    Während sie studierte,
    ihren Doktor machte,
    wuchs unser gemeinsames Leben
    in deutschen Straßen.


    Wir hatten den Kinderwunsch fast aufgegeben.
    Da kam er.
    Unser Sohn.
    Ein Schnitt,
    der jede Lebensplanung neu schrieb.
    Professorin?
    Weltreise?
    Karriereleiter?
    Alles anders.

    Und das war gut.


    Denn ich wusste:
    Hochintelligenz braucht Halt.
    Nicht Beschleunigung.
    Ein Kind mit IQ über 140 denkt schneller,
    aber fühlt nicht schneller.
    Das Herz reift in seiner eigenen Zeit.
    Und darum braucht es Stabilität.
    Einen Ort.
    Eine Adresse,
    die bleibt.


    So bin ich sesshaft geworden.
    Nicht aus Natur.
    Nicht aus Wille.
    Sondern aus Liebe.
    Aus Verantwortung.
    Aus dem Wissen,
    dass Stabilität manchmal das größte Abenteuer ist.

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