Kieselsteine

  • Kapitel 37 – Zwei Freunde, eine Frau und eine Domain

    Meine Frau,
    sie war – ohne es zu wissen –
    Knotenpunkt und Katalysator.
    Zwei Freunde verband sie miteinander.
    Der eine wurde
    mein Trauzeuge.
    Und ist es bis heute geblieben.
    Der andere –
    ich verlor ihn.

    Es war besonders,
    denn er war mein engster Schulfreund
    aus unserer gemeinsamen Schulzeit.
    Einer, mit dem man nicht nur lachte,
    sondern auch dachte.
    Stundenlang.
    Diskussionen.
    Seine Masterarbeit
    wir haben sie durchgeackert.
    Zusammen.
    Seite für Seite.
    Gary S. Becker stand im Zentrum.
    Und seine Kritik war präzise,
    klug und vor allem:
    gerechtfertigt.

    Denn was nützt eine Theorie,
    wenn sie nicht hält,
    was sie vorgibt?
    Wenn sie die Welt falsch erklärt,
    falsche Entscheidungen rechtfertigt,
    falsche Politik hervorbringt?

    Ich war enttäuscht,
    dass er nie eine Dissertation daraus machte.
    Er hätte den intellektuellen Atem gehabt.
    Die analytische Schärfe.
    Aber vielleicht fehlte ihm
    der Wille zum Sturm.


    Er stellte mich damals
    seinem Professor vor.
    Ich war stolz,
    neugierig –
    bereit für das Gespräch.

    Doch dann kam dieses Wort:
    Extrapolation.
    Ich war jung,
    unsicher.
    Und ich war
    zu feige nachzufragen.
    Ich nickte,
    verstand nichts
    und versagte mir selbst den Zugang.

    Ein Fehler,
    den ich später nie wieder machte.
    Nie wieder zu stolz,
    zu eitel,
    um zu sagen:
    „Ich verstehe das nicht – bitte erklär’s mir.“


    Dann kam Babsi.de.
    Eine Idee.
    Ein Projekt.
    Eine Domain,
    die ich heute noch habe:
    BauAbsichtenSystemInformationen
    (kurioser Name – ja –
    aber mit Herzblut gedacht.)

    Eine Art
    Immobilienscout24,
    lange bevor das groß wurde.
    Wir wollten
    strukturierte, transparente Immobilieninfo
    mit Bauabsicherungen verknüpfen.
    Innovativ.
    Mutig.

    Doch als es ernst wurde,
    als aus Träumen
    Verantwortung wurde,
    nahm er Reißaus.
    Schlich sich davon.
    Verdrückte sich.

    Der Feigling.

    So hart das klingt –
    aber genau so fühlte es sich an.
    Ein Freund,
    der nicht blieb,
    wenn’s real wurde.


    Manchmal sind die größten Verluste
    nicht die materiellen.
    Sondern die,
    bei denen man gemeinsam
    Zukunft gedacht hat –
    und sie dann
    allein weiterdenken muss.



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  • Kapitel 36 – Lebenslauf: Zu viel für ein Blatt Papier

    12 Monate.
    Statt 20.
    Oder 16.
    Nur ein Jahr Bundeswehr –
    die Wehrzeitkürzungen hatten zugeschlagen.
    Und mit den anderen „Ausscheidern“,
    die noch 16 Monate gemacht hatten,
    ging es für mich
    ab zum Arbeitsamt.
    Der Ernst des Lebens,
    wieder mal.

    Ein Lebenslauf sollte es sein.
    Ehrlich.
    Alles rein, was ich gemacht hatte.
    Na gut, dachte ich –
    daran soll’s nicht scheitern.
    Ich schrieb. Und schrieb.
    Zwei abgebrochene Lehren,
    unzählige Jobs,
    praktisch alles außer Langeweile.

    Doch der Kursleiter
    sah das ganz anders.
    Das geht so nicht.
    Es war ihm schlicht zu viel.
    Zu wirr.
    Zu chaotisch.
    Aber es war halt die Wahrheit.


    Ich hatte das BGJ-Bau gemacht,
    und dabei gleich ein Schwimmbad gebaut –
    mit den eigenen Händen.
    Loch von Hand gegraben,
    weil keine Betonpumpe den Garten ruinieren sollte.
    Ytongsteine aufgesetzt,
    mit Zement verfüllt,
    Stahlbewehrung in die Fugen.
    Der Maurermeister meines Vaters
    meinte:
    Sauber gemacht.
    Aber halt –
    kein Gesellenbrief.

    Ebenso wie die Zimmererlehre,
    abgebrochen.
    Und doch auf Dächern rumgeturnt,
    verschalt, genagelt,
    zum Beispiel einer Tierklinik in München.
    Nicht offiziell,
    aber echt.
    Ein Arbeiterleben in Fußnoten.


    Dann war da die Teppichkette:
    Teppichrollen eingehängt,
    zugeschnitten.
    Wehe, so eine macht sich selbstständig –
    dann kracht’s.
    Beim Bremsen einer losrollenden Teppichbombe
    den Arm verbrannt.
    Passiert.

    Bäckereikette
    frühmorgens Brötchen und Backwaren
    in die Münchner Filialen gefahren.
    Nur sechs Monate,
    aber die Touren saßen.
    Pünktlich. Beladen. Entladen.

    Und dann die CD-Rohlinge
    Schleifen,
    Polieren.
    Damals war das noch echte Industrie.
    Metalldiscs,
    aus denen später Millionen CDs gepresst wurden.
    Das war prä-digitale Präzision.


    Und dann –
    Wien.

    Genauer:
    der Gürtel.
    Mein Ford Capri blieb liegen,
    und wer tauchte auf?
    Ein Student, der mir fortan ein wichtiger Freund wurde.

    Er half mir, das Auto
    aus dem Verkehr zu schieben.
    Und im Gespräch fragte er:
    „Kannst du ausmalen?“
    Ich verstand nicht gleich.
    „Was meinst du?“
    „Malerarbeiten,
    für mein Haus in Niederösterreich.“

    Klar doch.

    So begann Wien.
    Zwei Jahre.
    Einer Adresse in Mödling.
    Der Student bot mir an, bei ihm zu wohnen,
    statt im Auto.
    Aus einem Gefallen
    wurde eine Freundschaft.


    Ich machte weit mehr
    als ausmalen:
    einen Stukkolustro,
    eine „Korktür“,
    die eine Wand war
    und doch nicht –
    mit einer cleveren Verriegelung
    über ein verstecktes Fenster-Schloss.
    Die Tür sah aus wie eine Korkpinnwand.
    Eine Tür,
    die eine Nicht-Tür war.
    Ein bisschen Magie aus Baumarktmaterial.

    Dann das Bad
    selbst verfliest.
    Ich war stolz auf das Bodenmuster.
    Damals hielt ich es für genial.
    Heute?
    Ach, sagen wir,
    es war liebevoll gepuzzelt.


    Der Student blieb ein Freund.
    Bis heute.
    Und da war noch etwas
    eine Dichterlesung bei ihm.
    Und dort:
    Sie.

    Meine Frau.

    Nicht geplant.
    Nicht gesucht.
    Einfach geschehen.
    So wie vieles in meinem Leben:
    durch ein Gespräch,
    einen Zufall,
    ein Missgeschick
    am richtigen Ort.


    Ein Lebenslauf?
    Ja.
    Nur dass meiner
    nicht auf ein Blatt Papier passt.
    Eher in ein Buch.
    Oder zwei.



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  • Kapitel 35 – Der Abend, an dem die Welt stillstand

    Jeder weiß, wo er war,
    als die Mauer fiel.
    Es ist einer dieser seltenen Momente,
    die sich wie eingebrannt haben –
    in Zeit, Raum und Gedächtnis.

    Ich war mit meinem Vater
    in der Sonnenstraße 20,
    Lohnabrechnungen durchgehen.
    Routine, wie so oft.
    Dann kam der Anruf:
    „Mach den Fernseher an.“

    Was dann geschah,
    ließ die Welt stillstehen.
    Der Bildschirm flimmerte,
    dann Bilder –
    Menschen,
    Grenzübergänge,
    Freudentränen.
    Ost-Berliner, die rüberkamen.
    West-Berliner, die Sektflaschen öffneten.
    Grenzer, die nicht mehr wussten,
    ob sie „Stopp“ oder „Willkommen“ sagen sollten.
    Ein Moment zwischen
    Befehl und Menschlichkeit.

    Und wir?
    Wir klebten am Fernseher,
    wie gelähmt vor Unglaublichem.

    Ich kannte die Vorboten.
    Da war ein Geschäftspartner aus Ungarn.
    Ein DDR-Bürger, der in Ungarn lebte
    und sich mit mir in München
    einen BRD-Pass besorgte.
    Er war kein typischer Flüchtling.
    Er hatte Arbeit, Sicherheit,
    eine Lithographieproduktion als Kooperationspartner –
    er war nicht auf der Flucht.
    Er wollte nur Vorsorge treffen.
    Für den Fall,
    dass das ganze Tauwetter plötzlich
    in Eiseskälte umschlug.

    Denn wir wussten es nicht.
    Im Frühjahr 1989 war nichts klar.
    Der Tian’anmen-Platz in China
    hatte gerade erst gezeigt,
    wie dünn der Faden sein kann,
    an dem Freiheit hängt.
    Der Geschäftspartner hatte recht mit seiner Sorge.

    Der Beamte im Aufnahmelager
    konnte es nicht fassen:
    Ein DDR-Bürger,
    der nur den Pass will,
    aber gar nicht hierbleiben.
    „Sowas gibt’s nicht“,
    meinte er sinngemäß.
    Aber doch,
    sowas gab es.

    Denn etwas Großes bewegte sich
    langsam, leise,
    aber unaufhaltsam.

    Und dann war da dieser Abend.

    Man sitzt da,
    sieht zu,
    und versteht:
    Das ist Geschichte.

    Nicht irgendwas in den Schulbüchern,
    nicht irgendein Jubiläum.
    Nein – jetzt,
    live,
    mitten im Büro Sonnenstraße Arbeit eingestellt.

    Ich wollte zur Grenze.
    Unbedingt.
    Irgendwohin,
    wo man das wirklich spürt.
    Nicht nur durch den Bildschirm.

    Aber München war zu weit.
    Der Moment war zu schnell.
    Und irgendwie
    war auch das Fernsehen
    wie eine Art Grenzübergang.
    Man konnte zusehen,
    staunen,
    ungläubig lachen,
    weinen.

    Für uns,
    die wir im Kalten Krieg groß wurden,
    war die Mauer so unüberwindbar
    wie der Horizont.
    Etwas, das einfach da war.
    Etwas, das nie fallen konnte.
    Und dann –
    fiel sie.

    Ganz ohne Schüsse.
    Ohne Panzer.
    Ohne Befehl.
    Einfach so.

    Und so saß ich da,
    mit meinem Vater,
    vor dem Fernseher
    in der Sonnenstraße 20
    und dachte:

    Es ist tatsächlich passiert.

    Und nichts
    wird je wieder so sein
    wie vorher.



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  • Kapitel 34 – Kalter Krieg im Tauwetter

    Während ich mit 25 Jahren meine Grundausbildung gerade erst überstanden hatte
    und endlich meine Sicherheitsfreigabe hatte,
    änderte sich die Welt
    und wir übten weiter,
    als hätte sie das vergessen.

    Zweimal während meiner Dienstzeit
    wurde die Wehrpflicht verkürzt.
    Zweimal bedeutete das:
    Kein Raketenschießen auf Kreta.
    Die Königsdisziplin der Hawk-Einheiten – gestrichen.
    Diejenigen, die noch schießen durften,
    gehörten zur Generation vor uns.
    Wir übten nur mit Betondummys
    und hörten uns stattdessen die Geschichten
    der Luftwaffenpiloten an,
    die nach der Wende erstmals mit ehemaligen MIGs fliegen durften.
    Aus „Feindeshand“ wurde plötzlich Technikspielzeug,
    aus Abschreckung ein Abenteuerbericht.

    Es war eine merkwürdige Zeit.
    Wir probten immer noch den Ernstfall –
    voll fokussiert auf „Rot gegen Blau“,
    als wäre der Kalte Krieg nie zu Ende gegangen.
    Tatsächlich war unsere Stellung nahe der DDR-Grenze,
    die es im Grunde nicht mehr gab.
    Im Kartenmaterial war sie noch verzeichnet,
    in den Köpfen mancher Ausbilder auch –
    aber auf der Straße war sie weg.

    Und doch – es war kein Spiel.

    Denn während wir übten,
    zog am Horizont ein anderer Krieg auf.
    Im Fernsehen flackerten die Bilder vom Golfkrieg,
    und eine Schwestereinheit wurde tatsächlich
    in die Türkei verlegt
    mitten ins Krisengebiet.
    Unsere Hawk-Raketen
    ein Relikt aus den 50er Jahren,
    ja, aber nicht nutzlos.
    Die Patriots in Ingolstadt waren zwar neuer,
    moderner, automatisierter –
    aber wenn es ernst wurde,
    würde auch unsere Stellung zählen.

    Drill war also kein Anachronismus,
    sondern Überlebensstrategie.

    Unsere mobilen Abschussrampen
    waren ständig in Bewegung.
    Betondummys rauf –
    Kabel verlegen –
    Startsimulation –
    und wieder abbauen,
    in Rekordzeit.

    Warum?

    Weil jeder Abschuss eine Signatur am Himmel hinterlässt.
    Ein greller Blitz –
    und irgendwo in der Ferne
    wird ein Gegner auf diesen Punkt eine Rakete programmieren,
    die schneller ist als unser nächster Kaffee.
    Deshalb das Mantra:
    „Abschießen. Abbauen. Weg sein.“
    Im besten Fall in unter 30 Minuten.
    Einmal schafften wir es in 27
    unser Rekord.

    Die Staffel wurde dabei stets gespalten:
    Eine Gruppe schießt,
    die andere packt schon ein
    und verlegt ins Nördlinger Ries,
    bereit zum nächsten Einsatz.

    Der Begriff „Stellungskrieg“ war bei uns kein festgefahrener Zustand,
    sondern ein hochmobiles Puzzle
    ständig auf Achse, ständig bereit,
    ohne zu wissen, ob der Gegner,
    den wir jeden Tag übten,
    überhaupt noch existierte.

    Denn in Wahrheit waren wir längst
    aus der Zeit gefallen.

    Die Mauer war weg.
    Die Welt sortierte sich neu.
    Aber unser Raketenregiment
    spielte das Spiel noch zu Ende,
    weil niemand den Text für den neuen Akt
    schon fertig geschrieben hatte.

    Und so übten wir weiter,
    als wäre Gorbi nur ein Gerücht
    und Kreta ein fernes Paradies,
    das wir nie sehen würden.



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  • Kapitel 33 – Einrücken mit Vorgeschichte

    Silvester 1989 in Konstanz war klirrend kalt
    nicht nur wegen der Temperaturen,
    sondern auch wegen der Gewissheit,
    dass es das letzte Fest in Freiheit sein würde.
    Tom und Jan waren dabei,
    alte Freunde, beide schon fertig mit ihrer Zeit beim Heer.
    Jetzt lachten sie über die Luftwaffe,
    zogen über das Chemieklo von Germersheim her
    und machten Witze, wie man dort mit der Gasmaske einschläft.

    Und ich?

    Ich fror nicht nur am Bodensee,
    sondern innerlich bei dem Gedanken an die Grundausbildung im Winter.
    Eis, Matsch, Drill –
    der Gedanke war alles andere als erhebend.
    Aber es kam ganz anders.

    Der Winter 1990 war ungewöhnlich warm,
    und die Ausbilder murmelten,
    dass wir froh sein könnten,
    nicht im Hochsommer die Rheinauen durchqueren zu müssen.
    Mückenplage, Hitze, Feuchtbiotop mit Helm und Rucksack
    das sei die wahre Hölle.
    Da kam der Frühjahrsboden fast als Erholung daher.

    Aber Erholung war das natürlich keine.

    Germersheim war damals berüchtigt für seine sogenannte
    „Blutsockeneinheit“
    eine Bezeichnung, die mehr nach Vietnam als nach Pfalz klang.
    Im Klartext: viel Marschieren, viel Schleppen, viel Schwitzen.
    Und das schlimmste Gerät in dieser ganzen Show:
    der Zodiak, unsere mobile ABC-Schutzanlage.
    Kombiniert mit einer Innenraumatmosphäre,
    die einem Siedekessel glich.

    Dazu noch Maskenläufe mit leichtem Brechreizgas
    eine Methode, damit niemand auf die Idee kommt,
    im Ernstfall seine Maske vom Gesicht zu reißen.
    Es gab trotzdem ein paar Helleköpfe,
    die genau das taten.
    Lehrreich – für die anderen.

    Ich war 25, die meisten anderen 18 oder 19.
    Und das merkt man.
    Fitness ist im Alter keine Selbstverständlichkeit,
    aber ich zog mit.
    Nicht nur, weil es der Stolz wollte,
    sondern auch, weil ich nicht abgehängt werden wollte.

    Beim Gewaltmarsch,
    als Sebi zusammenklappte,
    war Tragen angesagt.
    Bundeswehr eben: Einer fällt,
    alle tragen.

    Mit dem G3 schoss ich erstaunlich gut.
    Besser sogar als früher mit dem Luftgewehr meiner Mutter,
    die immerhin bayerische Schützenmeisterin war.
    Das G3 ist eine ehrliche,
    handzahme Waffe
    präzise, gut ausbalanciert,
    und, wenn man ehrlich ist,
    weniger „zickig“ als manches Sportgewehr.

    Obwohl die Wiedervereinigung längst im Raum stand,
    war unsere Ausbildung noch klar auf Kalten Krieg ausgerichtet.
    Feindbilder inklusive.
    Und da tauchte plötzlich der MAD auf –
    der Militärische Abschirmdienst.
    Keine Sicherheitsfreigabe für mich.
    Zwei Jahre Österreich, das war ihnen zu undurchsichtig.
    Ich verstand das.
    Irgendwie sogar bewunderte ich,
    was sie alles über mich wussten.

    Die wussten auch von der „Radarstation“ in einem kleinen Ort im Landkreis
    die Teil einer Rallye-Frage meiner Eltern war.
    Ich hatte gedacht, das sei eine alte Station aus dem Kalten Krieg.
    Aber später erfuhr ich:
    es war meine zukünftige Hawk-Stellung
    eine Einheit, die nach dem Prinzip
    „Abschießen und in 30 Minuten verschwinden“ arbeitete.
    Einmal schafften wir es in 27 Minuten.

    Aber ohne Sicherheitsfreigabe durfte ich da nicht mal den Zaun sehen.
    Also neue Überprüfung.
    Diesmal fragte man nach Referenzen.
    Ich dachte kurz nach –
    und nannte meine Tante.
    Die hatte beim BND gearbeitet.

    Ein paar Tage später:
    Sicherheitsfreigabe erteilt.

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  • Kapitel 32 – Bürgerlichkeit mit Keller

    Nein, Viehhandel war es ganz sicher nicht.
    Wir waren keine Bauern, sondern das,
    was man auf dem Land mit leichtem Stirnrunzeln als „die Städter“ bezeichnete.
    Gebildete Bürgerlichkeit auf dem Dorf,
    ein Münchner Geist in einem Körper auf dem Land.

    Mein Vater war einer dieser Männer,
    die in mehreren Leben gleichzeitig lebten –
    und die auch alle gleichzeitig funktionierten.
    Schon vor meiner Geburt war er der jüngste Unternehmer Deutschlands,
    ein Titel, den er nicht an die große Glocke hing,
    aber er wusste, was er war –
    und wie man Geschäft und Image zusammenrührt.

    Die München London Film GmbH war so ein Mosaikstein seiner Biografie,
    nicht nur ein Unternehmen, sondern auch Renommee auf dem Land.
    Denn in den Sechziger- und Siebzigerjahren war Film noch Magie,
    die Leinwand ein Fenster zur Welt,
    und wer dort arbeitete, war automatisch jemand.

    Mit dieser Aura kam er kostenlos aufs Bavaria-Gelände,
    was dort wahrscheinlich nur wenigen gelang.
    Kontakte, Charme, Cleverness –
    man kannte sich, und wenn nicht,
    kannte man bald seinen Ro 80.

    Ah, der NSU Ro 80
    damals wie ein Raumschiff auf Rädern.
    Wankelmotor,
    keilförmig wie ein Pfeil,
    und mit einem Auftritt,
    der selbst heute noch was hermachen würde.
    Und mein Vater?
    Natürlich in der Werbebroschüre als NSU-Kunde.
    Nicht aus Zufall –
    er hatte sich da mit Sicherheit einen Deal verhandelt,
    wie er es immer tat.
    Vielleicht günstiger,
    vielleicht exklusiver,
    aber auf jeden Fall: clever.

    Mit dem Ro 80 nach Hamburg in fünf Stunden
    das war sein Ding.
    Nicht angeben, sondern zeigen, wie’s geht.
    Modern denken, schnell handeln,
    immer einen Schritt voraus.

    Und dann war da noch das Baugeschäft:
    UG-BauUG für Untergeschoss.
    Weil man auch aus einer Lücke im Markt ein Geschäftsmodell machen kann.
    Die Fertighäuser von Hansa kamen ohne Keller,
    verkauft von meiner Mutter mit Feingefühl und Verstand,
    während ich irgendwo auf dem Musterhausgelände in München
    als Kind durch Wohnzimmer tobte,
    in denen noch nie jemand gewohnt hatte.

    Aber was fehlte, war der Keller
    also lieferte mein Vater ihn.
    Nicht als Nachgedanken,
    sondern mit einer eigenen Firma.
    Während die Kunden bei Hansa Häuser bestellten,
    kamen sie bei uns vorbei und sagten:
    „Und jetzt den Keller dazu, bitte.“

    Der Erfolg dieser Strategie lag in ihrer Schlichtheit.
    Was fehlt, wird geliefert.
    Was nicht geht, wird möglich gemacht.
    Und wenn es einen Umweg braucht,
    nimmt man eben den Ro 80.

    Auf dem Land waren wir Exoten.
    Nicht Bauern, nicht richtig Dorf,
    aber auch nicht abgehoben.
    Eher sowas wie ein urbaner Vorposten,
    mit Stil, Struktur – und einem Keller,
    der in keinem Fertighaus vorgesehen war.



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  • Kapitel 31 – Der Suzuki Winz und das Rennen gegen die Zeit

    So kam ich also doch wieder im Elternhaus an –
    nicht freiwillig, sondern wegen der drohenden Ausschreibung zur Fahnenflucht.
    Die Flucht aus Österreich endete nicht in der Freiheit,
    sondern in der Realität:
    Kreiswehrersatzamt München,
    eine der hässlicheren Adressen meiner Jugend.

    Ich rumpelte hinein,
    ganz der verlorene Sohn,
    unterschrieb ein paar Blätter,
    unter anderem, dass ich „freiwillig“ einrücke
    und mich nicht ins Ausland absetze.
    Ein bürokratischer Euphemismus für:
    „Wir wissen, wo du bist.“

    Damit war mein Einrücktermin fix:
    1. Januar 1990.

    Aber das war Zukunft.
    Denn wir schrieben noch 1989,
    und der Dienst beim Vater ging wieder los.
    Nicht mehr Bau,
    sondern die Firma Interscan
    eine Lithographiewerkstatt mit dem Ruf,
    halb Deutschland mit Vorlagen für Schnundblätter zu versorgen.

    Pop Rocky,
    Bravo Starschnitt,
    Bild der Frau,
    Goldene Revue,
    und all das, was in Wartezimmern rumliegt
    und die Fantasie von Teenies und Klatschliebhabern füttert.
    Hinter den Kulissen: Retuschierte Bilder,
    gephotoshopt, bevor es Photoshop gab.
    Am Leuchttisch mit dem Skalpell,
    Rubylithfolien geschnitten,
    Belichtungen korrigiert,
    Buchstaben zurechtgerückt,
    damit das Lächeln größer,
    die Taille schmaler,
    und das Drama tiefer wurde.

    Und weil es um Drucktermine ging,
    wurden bei Interscan manchmal
    ganze Familien zu Logistikexperten unter Hochspannung.

    Da gab es diesen einen Auftrag –
    eine Tiefdruckproduktion in Wien,
    mit Konventionalstrafen,
    die den Familienbetrieb hätten ruinieren können.
    Also machten wir das, was man heute einen Just-in-Time-Einsatz nennt,
    aber ohne Computer, ohne Trackingnummern,
    nur mit Instinkt, Tempo und Benzin im Blut.

    Die erste Druckvorlage ging per „Suzuki Winz“ raus –
    mein Spitzname für einen Winztransporter mit Motorradmotor.
    So leicht, dass der Fahrtwind durch die Türpfalz pfiff.
    Aber er schaffte es.

    Die zweite fehlende Druckplatte fuhr mein Vater persönlich
    im Mercedes 500 SL
    dem Straßenpanzer mit Haifischcharme.
    Er jagte über die Autobahn nach Wien,
    als würde er selbst den Druck abziehen müssen.

    Die dritte, letzte Platte kam per Luftpost,
    besser gesagt: per Schwester,
    die mit dem Flieger nach Wien startete.
    Drei Menschen, drei Wege,
    ein Ziel: Druckfreigabe rechtzeitig liefern.

    Und tatsächlich:
    Alle trafen nahezu gleichzeitig ein.
    Die Produktion konnte beginnen,
    die Strafzahlungen blieben aus,
    der Auftraggeber war zufrieden
    und der Familienbetrieb um eine Anekdote reicher.

    Wenn man es so betrachtet,
    war ich da kurz vor dem Wehrdienst
    noch Teil eines verdammt gut getimten Heistfilms,
    nur dass es hier um Druckplatten statt Diamanten ging.

    Und so ließ ich 1989 hinter mir,
    voller Raserei, Risiko und Rubylith,
    bereit für die Kaserne –
    naja, so bereit, wie man eben sein kann,
    wenn der Suzuki Winz das letzte war,
    was man unter sich gespürt hatte,
    bevor der Tarnanzug kam.

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  • Kapitel 30 – Gefasst an der Grenze: Ein Fehler mit Folgen

    Die Bundeswehr hatte mich nicht vergessen.
    Ich war zurückgestellt worden, ja – wegen des gebrochenen Arms,
    der mir unter dem LKW meines Vaters fast zermalmt worden war.
    Aber vergessen? Nein.

    Nach der Schuhverkäuferlehre war ich nach Österreich verschwunden,
    ohne mich großartig abzumelden.
    Ein bisschen Flucht, ein bisschen Selbstsuche,
    ein bisschen: Ich bin dann mal weg.
    Zwei Jahre lang funktionierte das erstaunlich gut.
    Bis 1989.

    Es war Weihnachten,
    und ich wollte meine Eltern besuchen.
    Doch die Rückkehr nach Deutschland
    endete nicht unterm Weihnachtsbaum,
    sondern in einer Gefängniszelle an der Grenze.

    Nicht wegen Fahnenflucht,
    sondern wegen Urkundenfälschung.
    Ein absurdes Vergehen,
    so klein wie eine Schraube –
    und doch groß genug für ein Strafurteil in Abwesenheit:
    1.600 DM.

    Die Geschichte war eigentlich simpel –
    und saublöd.

    Ich hatte zwei Autos:
    Eins, das fuhr, aber nicht zugelassen war.
    Eins, das zugelassen war, aber nicht fuhr.
    Es war Weihnachten 1987,
    die Zulassungsstellen geschlossen,
    die Grüne Versicherungskarte schon da.
    Also dachte ich:
    „Was soll’s. Ich fahr einfach.“
    Und schraubte die Nummernschilder vom Wrack auf den fahrbaren Capri.

    Natürlich wurde ich erwischt.
    Nicht etwa wegen Alkohol
    den hatte ich nicht im Blut.
    Aber ich hatte das Auto nicht abgeschlossen,
    und es stand nach der Weihnachtsfeier auffällig vor einem Café.
    Die Polizisten hatten offenbar gewartet.
    Zogen mich raus,
    und dann passten die Kennzeichen nicht zum Fahrzeug.
    VW Passat laut Schild,
    aber da stand ein Ford Capri.
    Tja.

    Der Beamte stellte sich mir mit den Worten vor:
    „Stahl wie Eisen.“
    Kein Witz.
    Ich schwieg nicht – ein Fehler.
    Ein Anwalt hätte aus dem Fall vielleicht etwas anderes gemacht,
    aber ich redete – und die Justiz urteilte.

    Ich war nicht informiert worden.
    In Österreich erfuhr ich nichts von der Verhandlung.
    Kein Brief, kein Mahnschreiben.
    Und so stand ich an der Grenze,
    plötzlich verurteilt.

    In Salzburg landete ich in der Einzelzelle.
    Die Beamten waren eigentlich freundlich,
    sie fragten, ob ich niemanden anrufen wolle.
    Ich wollte nicht, dass meine Eltern zahlen.
    Wollte nicht, dass sie sich wieder mit meinem Scherbenhaufen beschäftigen.
    Aber die Beamten sagten klipp und klar:
    „Wenn niemand zahlt, gehst du in den Knast. Und das ist kein Witz.“
    Sie beschrieben mir, wie es dort ist.
    Und sie beschrieben es so lebendig,
    dass ich die Zelle mit jeder Silbe besser fand
    als das, was mir dort drohte.

    Also gab ich nach.
    Meine Eltern zahlten.
    Und ich kam raus.

    Doch damit war der Albtraum nicht zu Ende.
    Kaum frei, hielt man mir einen Brief vor.
    Von der Bundeswehr.
    Darin stand:
    „Wenn Sie sich nicht binnen zwei Wochen melden, werden Sie zur Fahnenflucht ausgeschrieben.“

    Der nächste Scherbenhaufen.
    Ein paar Jahre unsichtbar gelebt,
    und plötzlich holte mich alles ein:
    Justiz, Verwaltung, Wehrpflicht.
    Der Staat hatte einen langen Arm
    und ich stand ihm – mal wieder – gegenüber.

    [Zum Buch]

  • Kapitel 29 – Wache schieben: Zwischen Blaulicht und G3

    Nachtwachen ähneln sich.
    Ob du nun in der Rettungswache auf dem Klappbett liegst
    oder draußen an der Kasernenmauer mit dem G3 auf Patrouille gehst –
    wenn nichts passiert,
    passiert eben nichts.

    Im Rettungsdienst ist die Nacht voller Möglichkeiten:
    Ein Anruf, ein Notfall, ein Unfall.
    Oder eben: Stille.

    Du sitzt,
    spielst Karten,
    ratscht,
    döst,
    hast das Funkgerät im Blick.
    Und du weißt:
    Es kann jeden Moment losgehen.
    Oder auch nicht.

    In der HAWK-Staffel der Bundeswehr war das anders –
    gleichförmiger.
    Eintöniger.
    Und, ja: sinnloser.

    Patrouille im Kreis,
    mit scharfer Patrone im Lauf,
    am Zaun entlang,
    wo ein Schild hängt:
    „Betreten verboten – hier wird scharf geschossen.“
    Ein Satz, der auf der Rettungswache niemanden beunruhigt hätte,
    aber im militärischen Alltag das letzte bisschen Ernsthaftigkeit versprühte.
    Trotzdem:
    Es passierte nie etwas.

    Wer bei der Bundeswehr in ein Gelände einbricht,
    muss entweder verwirrt oder lebensmüde sein –
    und das wusste auch jeder,
    der da draußen Wache stand.

    Nur einmal kam ein NATO-Checker
    quasi die oberste Gefahr in ruhigen Nächten.
    Jemand, der prüft, ob der Dienst ernst genommen wird,
    ob du im Regen stehst oder im Jeep pennst.
    Einmal.
    In Monaten.

    Ansonsten:
    Warten.
    Frieren.
    Rauchen.
    Mit dem Gewehr über der Schulter
    und der Frage im Kopf:
    „Würde ich wirklich abdrücken, wenn jemand kommt?“

    In der Rettungswache hingegen:
    Unbewaffnet.
    Aber trotzdem näher am Leben.
    Dort hat das Warten einen Sinn –
    denn wenn der Alarm losgeht,
    geht es um Minuten,
    um Menschen.
    Nicht um Parolen.

    Vielleicht ist das die größte Erkenntnis aus beiden Wachen:
    Dass man in der einen nur den Zaun bewacht
    und in der anderen das Leben.

    Beide Male sitzt du nachts da,
    und nichts passiert.
    Aber wenn doch,
    macht es einen Unterschied,
    ob du Feuerwehrstiefel anziehst
    oder in Stellung gehst mit dem Finger am Abzug.

    Am Ende ist das Wacheste
    nicht der Körper,
    sondern die Frage:
    Wofür sitze ich hier eigentlich?

    [Zum Buch]

  • Kapitel 28: Blaulicht, Blut und Bilder im Kopf Man sagt, der Mensch gewöhnt sich an alles.

    Aber das stimmt nicht. Man funktioniert.

    Mehr nicht. Im Rettungsdienst lernte ich früh,

    was andere ihr Leben lang vermeiden:

    Blut.

    Körper.

    Tod. Ich war sechzehn oder siebzehn,

    und beim ersten Mal

    kotzte ich in den Straßengraben. Dritter Mann. Der Unerfahrenste.

    Mit rausgenommen zur Übung.

    Oder, wie man später zynisch sagt: „Damit du’s lernst.“ Ich lernte. Schnell.

    Nicht weil ich stark war,

    sondern weil ich musste. Da war der Motorradfahrer ohne Kopf –

    ein Stahlseil quer über die Straße.

    Ein falscher Winkel.

    Ein Splitsekundenfehler.

    Ein menschliches Leben auf der Straße verteilt,

    bis auf den Kopf, der fehlte. Dann war da der Schweißer aus Österreich –

    Tanklastwagen.

    Eine winzige Undichtigkeit.

    Ein Funke. Explosion. Man sagt, er hatte 100 Kilo.

    Was wir bergen konnten,

    waren 70.

    Kein Körper mehr.

    Ein Fall für Tüten, nicht Tragen. Dann war da das Kind,

    das irgendwo in der Region des Jugenddorfes

    auf dem Weg nach einer nahegelegenen Stadt

    seinen letzten Atemzug tat.

    Die Kindersitze, die Eltern,

    das kleine Gesicht, das nicht mehr lächelt.

    Es ist dieser Moment,

    wo man für Sekunden still wird –

    nicht aus Ehrfurcht,

    sondern weil man nicht weiß,

    ob man schreien oder brechen soll. Und danach: Funktionieren. Eintrag im Protokoll.

    Messwerte. Uhrzeit. Nichts fühlen. Denn wenn du da jedes Mal fühlst,

    hältst du keinen Monat durch. Die leichten Fälle vergisst du schnell.

    Der Rentner mit dem verstauchten Knöchel,

    die falschen Alarmierungen,

    die Panikattacken um drei Uhr nachts. Aber manchmal bleibt etwas hängen,

    nicht weil es schlimm war,

    sondern weil es das erste Mal war. Ein Mann,

    der sich vergiften wollte.

    Selbstmordversuch.

    Wahrscheinlich mehr Hilferuf als Absicht.

    Aber es war mein erster Einsatz.

    Mein erstes „echtes“ Leben in der Hand.

    Das erste Mal die Angst im Blick eines anderen sehen

    und nicht wissen,

    ob man selbst genug kann, um ihn zu retten. Später stumpft man ab,

    sagen sie. Aber das stimmt nicht. Man wird nur gut im Wegpacken.

    In Schubladen.

    Im Lächeln, wenn man anderen davon erzählt.

    „Ach ja, da war mal einer, dem fehlte der Kopf.“

    Und alle lachen nervös. Schwarzer Humor ist nur die Tapete für eine zersplitterte Innenwand. Und wenn dann einer fragt: „Wie hält man das aus?“

    Dann sagst du: „Man gewöhnt sich dran.“ Aber das stimmt nicht.

    Du lernst nur zu schweigen.

    [Zum Buch]